Wie Karl zur Achtsamkeit fand
Das ist Karl

Seit einigen Monaten geht es ihm nicht gut. Jedoch kam die Erkenntnis erst an dem besagten Tag.
Wir schreiben den 23. August 2022
Karl sitzt in seinem Büro. Karl ist Eventplaner. Auf seinem Schreibtisch türmen sich die Ordner, Mappen und Zettel.
Es ist kurz vor 8:30 Uhr, als Karl mit seinem dritten Kaffee in der Hand, sich auf seinem Bürostuhl setzt.
Er recherchiert gerade nach einer Location für ein großes Sommerfest nächstes Jahr. Also scrollt er durch die Google Anzeigen und lässt die Säle und Hallen, die sich vor ihm auftun, an sich vorbeiziehen.
Nebenbei muss er die ganze Zeit an seinen aller neuesten Auftrag denken. Er hat es doch tatsächlich geschafft, die Organisation für die Hochzeit eins lokal bekannten Pärchens an Land zu ziehen.
Aber…
Wenn er das versaut, ist er dran. Dann war’s das mit seiner Karriere.
Was würde dann auf seine Frau zu ihm sagen. In der letzten Zeit zeigt sie eh kaum noch Interesse an ihm. Und seine Kinder? Arbeitslos mit Mitte 40. Ein schönes Vorbild. Sie würden ihn nicht mehr ernst nehmen. Ihre ganze Lebenseinstellung würde sich ändern. Wahrscheinlich würden sie es in der Schule nicht schaffen. Was ihnen aber bestimmt egal wäre. Sie brauchen keine Karriere, genauso wenig wie ihr arbeitsloser Vater. So würden sie doch denken, oder nicht?
Besonders macht er sich Sorgen um seinen Jüngsten. Immer mehr steigerte er sich in diese Ego-Shooter-Spiele. Mit anderen in seinem Alter trifft er sich eigentlich gar nicht mehr. Vielleicht hätte er sich mehr um ihn kümmern sollen. Er hätte mit ihm reden sollen. Wer weiß, was in ihm vorgeht. Diese Faszination von Waffen und Gewalt kann doch nicht normal sein. Immer öfter kommt es vor, dass Jugendliche zu Amokläufer werden. Oh nein! Er hätte mal seinen Browserverlauf checken sollen. Was, wenn sein Jüngster bereits dabei ist, einen Plan zu schmieden. Möglicherweise ist er genau jetzt mit einer Tasche voller Waffen auf dem Weg zu seiner Schule. Wie viele Opfer wird es geben? Und alles nur, weil er als Vater versagt hat.
Und genau da…
Als Karls Gedankenkarussell, in der Stille seines Büros, mit gefühlten 180 km/h in die zigste Umdrehung raste – geschah es! Auf einmal und ohne jegliche Vorahnung, hörte sein Herz auf zu schlagen.
Baboom Baboom Ba————.
Es war wie ein nie angedachter Wunsch. Wie ein nie zu träumen gewagter Traum.
Das Karussell kam endlich zum Stehen.
Endlich durfte Karl aussteigen.
Endlich durfte er zur Ruhe kommen.
Endlich durfte er nur er sein.
Nur da sein und nicht da sein müssen.
Es war die Ruhe dieses Moments, die mit einem sonderbaren Glücksgefühl erfüllte. Es war so, als könnte er endlich und tatsächlich loslassen.
Das Nächste…
woran sich Karl erinnerte, war das monotone Piepsen einer Maschine. Es holte ihn zurück. Als er die Augen öffnete, sah er die Lichter des EKGs, die Schläuche, die zu seinen Adern führten und das sterile Weiß, was ihm klarmachte, dass er im Krankenhaus war.
Die Wochen darauf
Die Ärzte sagten Karl, dass er ein Herzinfarkt hatte. Irgendwas von wegen zu viel Stress, zu viel Kaffee, zu wenig Bewegung, zu viel Arbeit und und und.
Karl musste eine Reha machen. Sein Körper erholte sich schnell, aber seine Psyche stand still. Obwohl es alles nur sehr verschwommen seine Erinnerung war, konnte er doch nicht aufhören an diesen Moment zu denken. An dem Moment, an dem sein Herz aufhörte zu schlagen. An die Ruhe und die Erleichterung, die ihm in diesem Moment zuteilwurde.
Er sehnte sich an diesen Moment zurück und genau das machte ihm auch eine riesengroße Angst. Er traute sich nicht, mit anderen darüber zu sprechen. Sie würden ihn doch für labil oder sogar für selbstmordgefährdet halten. Dabei will Karl doch leben. Er will leben. Aber was genau heißt leben?
Heißt Leben immer das Maximum zu geben?
Immer perfekt zu sein?
Immer überall und für jeden da zu sein?
Immer mehr zu sein, als wie man wirklich ist?
Diese Gedanken beschäftigen Karl jeden Tag. Und ohne es zu merken, ist Karl wieder in das Karussell eingestiegen. Die ersten Fahrten waren so langsam, dass Karl sie gar nicht registriert hat. Aber seit einigen Wochen dreht sich das Karussell wieder schneller. Jeden Tag ein bisschen schneller.
Es ist der 31. 12. 2022 kurz vor Mitternacht
Karl ist mit seiner Frau zusammen bei den Nachbarn. Diese veranstalten eine Silvesterparty für die komplette Nachbarschaft.
Nur noch weniger Minuten bis Mitternacht
Karl unterhält sich mit Jochen. Jochen erzählt von seiner Arbeit als Finanzberater. Jochen hat es geschafft, einen neuen Auftrag zu bekommen. Einen großen Auftrag, einen wichtigen Auftrag, einen Auftrag der entscheidend für Jochens Karriere ist.
Und wie Jochen so erzählt, spürt Karl auf einmal eine eigenartige Feuchtigkeit in seinem Gesicht. Auch bemerkt er, dass sich Jochens Gesichtsausdruck plötzlich verändert hat, er schaut ihn mit einer grotesken Hilflosigkeit an.
Karl fasst sich ins Gesicht. Dann wird ihm schlagartig klar. Das, was da gerade seine Wangen herunterrollt, sind Tränen. Seine Tränen.
Karl wünscht sich, dass sich der Boden unter ihm auftut. Wie peinlich ist es, dass gerade ihm so etwas passiert. Einem Mann. Einem Geschäftsmann.
Noch nie zuvor ist ihm so etwas passiert. Am liebsten würde er einfach wegrennen. Er erzählt Jochen irgendetwas von einer akuten Bindehautentzündung und stürmt daraufhin ins Bad. Er schafft es gerade noch, die Tür abzuschließen, als ihm ein Schwall von Traurigkeit wie ein Laster überfährt. Karl kauert sich in eine Ecke und lässt nun diesem Gefühl einen freien Lauf. Jetzt weint und schluchzt er, wie ein kleiner Junge.
Als draußen die Raketen knallen und die Menschen sich in die Arme fallen, weiß niemand, dass es eigentlich Karl ist, der in diesem Moment in tausend Stücke explodiert.
10. Januar 2023
Karl hat nach der Silvesterparty den Mut gefasst und sich seiner Frau anvertraut. Entgegen seiner Erwartung zeigte sich seine Frau von einer ungewohnt einfühlsamen Seite. Sie sagte, sie sei so glücklich, dass Karl es endlich schaffen würde über seine Gefühle zu sprechen. So lange habe sie darauf gewartet und es fast schon aufgegeben.
Karl war überrascht. Wie konnte so eine Offenlegung seiner Schwäche attraktiv auf seine Frau wirken.
Seine Frau vereinbarte eine Therapie für Karl. Karl fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken Therapie zu machen. Aber seine Frau sprach lange mit ihm über das Thema und schaffte es, ihm seine Bedenken und auch seine Angst ein Stück weit zu nehmen.
20. März 2023. Die erste Therapiesitzung
Karl ist ziemlich aufgeregt, denn er weiß nicht, was bei dieser Therapiesitzung passiert.
Sein Therapeut ist ein netter älterer Mann, mit einer ruhigen melodischen Stimme und sympathischen Gesichtszügen.
Er stellt Karl ein paar Fragen zu seiner Person, Familie und Arbeit. Dann bat er Karl, seine Geschichte, die ihn jetzt zur Therapie führte, von Anfang an zu erzählen.
Karl erzählt von seinem Herzinfarkt, von seinen Gedanken, die er davor und danach hatte und von der Silvesternacht. Die Nacht, in der er, laut seinen eigenen Worten, die Kontrolle über sich verloren hatte.
Sein Therapeut erklärt ihm, wie schnell es passieren kann in eine Gedankenspirale zu kommen und wie schwer ist es ist, sie wieder zu verlassen. Gedanken sollte man ziehen lassen und nicht festhalten.
Einfacher gesagt als getan, dachte sich Karl. Der Therapeut bemerkte Karls Skepsis und fragte ihn, ob er schon einmal etwas von Achtsamkeit gehört hätte.
Karl kannte den Ausdruck Achtsamkeit, konnte aber in diesem Zusammenhang nichts damit anfangen.
Achtsamkeit ist das bewusste Wahrnehmen des gegenwärtigen Moments, erläuterte sein Therapeut. Er gab aber noch zu beachten, dass dieses geübt werden muss und nicht von heute auf morgen klappt.
Karl wusste nicht so recht, was er damit anfangen sollte, aber er war auch bereit, sich darauf einzulassen. So gab ihm sein Therapeut eine Hausaufgabe mit, die er bis zur nächsten Sitzung machen sollte.
Die Aufgabe
Karl soll einen kleinen Spaziergang machen. Für den Anfang reichen 15 bis 20 Minuten. Er soll in den Wald gehen. Alleine.
Wenn er durch den Wald geht, soll er alles, was er sieht, riecht, spürt und hört, laut aussprechen.
Wie zum Beispiel: Ich sehe eine große grüne Tanne. Das Grün ist ein Dunkelgrün, die Nadeln sind dicht besetzt. Ich spüre einen leichten Wind in meinen Haaren. Ich rieche dezent das Harz der Tanne. In der Ferne höre ich einen Vogel singen.
Wichtig bei dieser Übung ist, dass der Moment einfach nur wahrgenommen wird, ohne ihn zu bewerten.
Am Anfang ist es leichter die Wahrnehmung laut auszusprechen, anstatt nur gedanklich vor sich hinzusagen, da dann die Gefahr droht, dass bei dem gedanklichen Wahrnehmen sich noch andere Gedanken dazu mischen.
Und jetzt…
Jetzt liegt es an Karl diesen Weg zu gehen und zu schauen, wohin er ihn führt.