Amanda und das verlorene Herz

„Wenn du auf einem Drahtseil balancierst, ist es egal, ob du links oder rechts runterfällst.“
Amanda glaubt, dass es sich mit der Liebe in ähnlicher Weise verhält. Egal wie, man kann nur fallen. In die Tiefe hinabstürzen, ohne ein Netz, dass einen vor dem Aufprall schützt.
Tatsächlich ist die Liebe ein schmaler Grat, auf dem man wandelt, immer mit dem Abgrund vor Augen.
Es ist das Hochgefühl, dass uns weiterlaufen lässt, aber jeder Schritt, den wir gehen, könnte
der Letzte sein. Auch wenn wir nicht gehen, könnte ein Sturm aufziehen und alles ins
Wanken bringen.
Amanda liebt die Höhe, liebt die Gefahr, kennt das Risiko. Amanda macht große Schritte, zu
große Schritte. Sie schließt dabei die Augen, da sie glaubt, sie könne auf sich vertrauen, auf
ihr Gefühl vertrauen. Sie hebt ihren Fuss für einen erneuten Schritt und lässt ihn voller
Zuversicht sinken. Doch da ist nichts, sie tritt ins Leere. Vor Schreck öffnet sie die Augen.
Es ist zu spät, sie kann nur noch sehen, wie der Boden auf sie zurast. Und „BUMMM“ knallt
sie auf.
Ihr Körper, der vorher so leicht schien, trifft den Boden mit einer unvorstellbaren
Härte. Ihr Schädel zerschmettert in tausend Teile. Durch den Aufschlag hat sich ihr
Brustkorb geöffnet. Ein großes klaffendes Loch, durch das ihr Innerstes nach außen strömt,
als wolle es nicht mehr zu ihr gehören. Ihre Gedärme kriechen wie giftige Schlangen um sie
herum. Und irgendwo auf dem kalten Asphalt liegt ihr Herz. Ganz alleine. Abgetrennt von
ihrem Körper, nicht mehr fähig zu schlagen für sie. Es ist nur noch ein Klumpen, durch den
kein Blut und keine Liebe mehr fließt.
Da liegt Amanda nun regungslos und leblos, nur noch eine leere Hülle ihrer selbst.
Irgendwann kommen die Sanitäter, um Erste Hilfe zu leisten. Sie setzen ihre Schädeldecke
wie ein Puzzle wieder zusammen. Sammeln ihre Gedärme auf und stopfen sie zurück in
ihren Brustkorb. Auch ein Herz ähnlicher Klumpen wird gefunden und irgendwo dazwischen gequetscht. Dann wird ihr Brustkorb mit groben Stichen zusammengenäht.
Amanda ist gerettet worden! Amanda lebt! Zumindest glauben das die „Anderen“.
Nach einiger Zeit sind ihre Wunden vernarbt und Amanda sieht wieder aus wie Amanda und funktioniert wie Amanda. Aber immer, wenn sie ihre Augen schließt, sieht sie ihr Herz, alleine und kalt auf dem Asphalt liegen. Dann fühlt sie an ihrer Brust, kann aber keinen Herzschlag spüren. Sie weiß, da ist irgendwas in ihrer Brust, was sich groß und schwer macht und hart gegen ihre Rippen drückt. Sie ist sich jedoch sicher, es ist nicht ihr Herz, sondern nur ein Stein, der jetzt seinen Platz einnimmt.
Ihr Herz liegt noch irgendwo da draußen. Vielleicht am Straßenrand. Vielleicht findet es
jemand und bringt es Amanda zurück. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.